[Lesen] Leserbrief an die ZEIT zum Artikel «Sterben und sterben lassen»

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Ein Artikel in der ZEIT vom 25.07.2013:

«Sterben und sterben lassen – Die Palliativmedizin kann das Ende des Lebens einfühlsamer gestalten als in Kliniken üblich. Deutschland ist darin ein Entwicklungsland» → Zum Artikel

Folgenden Leserbrief habe ich dazu an die ZEIT-Redaktion geschickt:

Sehr geehrte Frau von Münchhausen, sehr geehrte ZEIT-Redaktion,

in Ihrem Artikel schreiben Sie: «Mediziner fühlen sich wohl, wenn sie etwas tun können. Zu heilen und Leben zu erhalten entspricht ihrem professionellen Selbstverständnis.«

Warum ist das so?

Man stelle sich vor: an den Universitäten werden beispielsweise sämtliche chirurgische Fächer (Unfall-, Viszeral-, Gefäßchirurgie, Orthopädie, etc.) in allen Details gelehrt und geprüft. Unabhängig davon, ob der Medizinstudent später Chirurg wird oder z. B. Psychiater, eine Fachrichtung, in der chirurgische Kenntnisse nicht notwendig sind.

Mit Tod und Sterben – Themen, mit denen jeder Arzt mal konfrontiert wird – mussten sich die Studenten bis vor Kurzem gar nicht, und jetzt auch nur in sehr geringem Maße, auseinandersetzen.
Darin liegt meiner Meinung nach der Ursprung allen Übels: dass ‹Sterbemedizin› (physiologische Prozesse beim Sterben, indirekte Sterbehilfe etc.) nicht bzw. kaum an der Universität gelehrt wird – und wenn dann nur in einem kleinem Nischen- oder Wahlfach -, dass sich Mediziner demzufolge nicht mit der Thematik beschäftigen müssen, sondern dieser gar aus dem Weg gehen können.

Wie soll ein Arzt, der sich nie mit dem Sterben beschäftigt hat, der der Konfrontation bisher womöglich aktiv aus dem Weg gegangen ist, der an der Uni und in der Facharztausbildung von Anfang an darauf getrimmt wurde ‹Leben zu retten›, auf einmal dazu fähig sein, «etwas nicht zu tun, also eine Behandlung zu unterlassen, solange sie noch möglich ist«?

«Gewöhnlich setzen sie demnach alles daran, den Verlauf einer Krankheit zu beeinflussen, statt ihm passiv zuzusehen – ganz abgesehen davon, dass sie sich absichern gegen juristische Konsequenzen, etwa den Vorwurf unterlassenener Hilfeleistung.«

Warum ist das so?

Was würde ‹passives Zusehen› bedeuten? Dem Patienten nicht auf einer sachlichen Ebene (Medikamente, technische Apparate, chirurgische Interventionen etc.) begegnen, sondern auf einer menschlichen. Dem Patienten zuhören. Mit ihm reden. Sich seinen Sorgen und denen seiner Angehörigen stellen. Empathie zeigen. Alles Qualitäten, die Mediziner entweder von Haus aus mitbringen, sich selber aneignen oder eben nicht besitzen, da diese, genauso wenig wie die (naturwissenschaftliche) Lehre der Sterbemedizin, im Studium vermittelt werden.

Erst wenn sich die Lehre an den Universitäten ändert, wenn das Vermitteln ‹menschlicher› Qualitäten den gleichen Stellenwert erhält wie das von fachlichem, technischem Wissen, wenn Medizinstudenten von Anfang an auch auf diese Qualitäten getrimmt werden, werden sich grundlegende Dinge in der Medizin ändern.

Mit meinem Blog setze ich mich für die Verbreitung von mehr Menschlichkeit in der Medizin ein: www.tellerrandmedizin.org.

Folgenden Satz möchte ich noch kommentieren: «ganz abgesehen davon, dass sie sich absichern gegen juristische Konsequenzen, etwa den Vorwurf unterlassener Hilfeleistung«

Warum klagt ein Patient? Vielleicht auch, um sich Gehör zu verschaffen, um angehört zu werden. Weil die Ärzte ihm nicht zugehört haben. Weil er sich nicht verstanden gefühlt hat, nicht als Mensch mit Leib und Seele wahrgenommen wurde, sondern nur als Träger einer Krankheit.

Verklage ich als Patient meinen Arzt bzw. als Hinterbliebener den behandelnden Arzt, wenn ich der Meinung bin, dass er sein Bestes gegeben hat? Dass er alles in seiner Macht stehende getan hat, mir/meinem Angehörigen zu helfen bzw. sein Sterben so human wie möglich zu gestalten? Wenn ich mich mit meinen Ängsten und Sorgen angenommen gefühlt habe?

Womit wir wieder bei den menschlichen Qualitäten wären. Wir kommen nicht um sie drumherum.

Herzliche Grüße

Dr. med. univ. Julia Bader
junge Ärztin und angehende Osteopathin

Was meint Ihr dazu? Was sind Eure Erfahrungen? Ich freue mich auf Eure Kommentare, hier oder im NETZWERK, wo schon fleißig diskutiert wird!

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